Wie ich aus einer chinesischen Millionenstadt in ein deutsches Dorf kam.
Ich bin wirklich froh, dass ich mich dazu entschlossen habe, von August 2012 bis Juli 2013 ein Austauschjahr in Deutschland zu verbringen. Denn ich habe sehr viel gelernt und gesehen. In Deutschland wohnte ich in einem kleinen Dorf. Dort ist es ganz anders als in meiner Heimatstadt in China. Ich begann ein völlig neues Leben dort.
Das Dorf heißt Weißenhorn und hat 13.228 Einwohner, wie mir Wikipedia jetzt mitteilt. Aber ich habe bisher immer gedacht, dass es nicht mehr als allerhöchstens 3.000 Einwohner hat, weil es auf mich ziemlich klein wirkte. Es ist eine kleine Stadt, aber mir kam es vor wie ein Dorf. Meine Heimatstadt Shenzhen umfasst ein Stadtgebiet von circa 2.100 Quadratkilometern, das entspricht ungefähr der vierfachen Fläche des Bodensees in Deutschland. Die Stadt grenzt direkt an Hongkong, nur ein Fluss trennt beide Städte. Gemäß der Einwohner-Statistik gab es in Shenzhen im Jahr 2011 insgesamt circa 10,5 Millionen Einwohner. Deswegen hatte ich den Eindruck, dass Weißenhorn ein kleines Dorf ist. Jeder kennt jeden, weil Weißenhorn ziemlich klein ist. Man sagt immer „Hallo“ zueinander – das passiert in Shenzhen nie.
In Weißenhorn bin ich jeden Tag mit dem Fahrrad zur Schule gefahren. Es dauert nur acht Minuten. In Shenzhen dagegen lebe ich in der Schule, nicht in meinem Haus. Wir Schüler übernachten in einem Schlafsaal, zu acht. Es ist nicht erlaubt, in Shenzhen Fahrrad zu fahren. Man muss andere Verkehrsmittel benutzen. In dieser Hinsicht mag ich Weißenhorn mehr als Shenzhen. Alle Geschäfte in Weißenhorn schließen spätestens um 19:30 Uhr. Das hat mich zuerst irritiert, weil mein größtes Hobby Einkaufen ist. Es gibt nur zwei Supermärkte für normales Essen, aber kein Einkaufszentrum. Ich muss dort immer mit dem Bus fahren, wenn ich Shoppen will. Das dauert sehr lang. Im Gegensatz dazu gibt es viele Shoppingzentren in Shenzhen und fast alle Läden schließen um 23 Uhr.
Ein anderer Unterschied zwischen Weißenhorn und Shenzhen ist ihre Geschichte. Weißenhorn ist eine alte Stadt. Aber Shenzhen ist eine ganz neue Stadt mit einer nur 33-jährigen Geschichte. Man kann also sagen, dass Shenzhen über Nacht gebaut wurde, und der „Shenzhen-Speed“ ist mittlerweile weltbekannt: Alles rast, die Menschen, die Autos, das Leben. Die Unterschiede im Leben der Menschen in Weißenhorn sind nicht groß. In Shenzen aber gibt es Riesenunterschiede: Von 10,5 Millionen Einwohnern haben nur 2,6 Millionen einen in Shenzhen ausgestellten Pass. Der Rest der Bevölkerung sind Zuwanderer, Wanderarbeiter und arme Bevölkerung. Das Phänomen Shenzhen hat eine ungeheure Anziehungskraft und man sieht eine Stadt mit zwei Gesichtern. Der Unterschied zwischen Reich und Arm wird hier extrem deutlich.
Schüler in China sind ziemlich starkem Druck ausgesetzt, der auch durch die Ein-Kind-Politik bedingt ist. Normalerweise dürfen Familien nur ein Kind haben, so wie meine Familie. Deshalb erwarten die Eltern natürlich sehr viel von ihrem Einzelkind. Und wegen der hohen Bevölkerungszahl und der begrenzten Bildungsmöglichkeiten ist der Konkurrenzkampf während der Schulzeit sehr stark. Eltern drängen ihre Kinder, in der Jugend so viel zu lernen wie nur eben möglich. In meiner Klasse kann zum Beispiel kann fast jeder Schüler mindestens ein Musikinstrument spielen. Aber in Weißenhorn kriege ich viel Freizeit und kann selber entscheiden, was ich machen will. Normalerweise hat jedes Kind in Weißenhorn Geschwister. Meine Schule in Shenzhen heißt Shenzhen Middle School. Es ist die beste High-School in Shenzhen und eine der besten Schulen in der Provinz Guangdong. Es gibt drei Klassenstufen in meiner Schule, eine zehnte, elfte und zwölfte – aber es gibt mehr als 4.000 Schülerinnen und Schüler. Jede Klasse hat mehr als 50 Schüler. Im Gegensatz dazu gibt es nur ungefähr 20 Schüler pro Klasse am Nikolaus-Kopernikus-Gymnasium in Weißenhorn.
Ich sage immer zu meinen Freunden und meiner Familie, dass Deutschland ein sehr guter Platz für ältere Menschen zum Leben ist. Aber ich finde es ein bisschen langweilig für junge Leute. Vielleicht möchte ich, wenn ich älter bin in Deutschland in einem kleinen Dorf wohnen. Aber zuerst will ich unbedingt in einer großen Stadt wie Shenzhen arbeiten.
Der Text von Manyu Huang entstand im Rahmen eines PASCH-Journalismus-Camps in Japan. Von 12. bis 16. August 2013 trafen sich 20 Schülerinnen und Schüler aus China, Korea, Japan, Taiwan, Hongkong und der Mongolei in Tokyo, um unter dem Motto „Journalismus entdecken“ die Arbeit mit unterschiedlichen Medien kennenzulernen. Nach einer Einführung in die Bereiche Print-, Online-, Radio- und Fernsehjournalismus konnten die Schülerinnen und Schüler jeweils ein Medium näher kennenlernen. Dabei wurde jede Workshop-Gruppe von einem deutschen Journalisten betreut, der die Schülerinnen und Schüler bei der Konzeption und Ausarbeitung ihrer Beiträge unterstützte.
Ein Beitrag von:
Manyu Huang (16)
Schule:
Shenzen Middle School (China)