Das Dorf findet man überall: Ein Gespräch mit Ingo Schöningh, Leiter der Spracharbeit am Goethe-Institut Tokyo, über sein Leben in verschiedenen asiatischen und europäischen Metropolen.
Herr Schöningh, wir haben gehört, dass Sie in vielen großen Städten gelebt haben. Welche waren das?
Tokyo und Seoul. Und ich habe noch in Berlin, Köln, München, Hanoi in Vietnam und kurz in Jakarta in Indonesien gelebt.
Welche Stadt mögen Sie am liebsten?
Ich bin grundsätzlich bemüht um einen gewissen Lokalpatriotismus. Ich versuche mich immer gerne in der Stadt wohlzufühlen, in der ich gerade lebe und die Vorteile dieser Stadt zu sehen. Da ich jetzt in Tokyo wohne, lebe ich am liebsten in Tokyo. Also als ich in Seoul vor zwei Jahren gelebt habe, war ich genauso glücklich. Tokyo hat für den „Benutzer“ angenehme Seiten als Benutzeroberfläche, zum Beispiel den guten Service, und die Menschen sind nett. Als Stadt finde ich Tokyo schon sehr perfekt zum Leben.
Welche Stadt mögen Sie am wenigsten?
Ich komme von einem einsamen Bauernhof, nicht mal aus einem Dorf, ohne Nachbarn – der nächste Mensch wohnt fünf Kilometer entfernt. Da wollte ich weg, und bin nach Essen gegangen, eine große Stadt im Ruhrgebiet. Da habe ich mich dann doch etwas verloren gefühlt.
Wenn Sie alt sind, wollen Sie immer noch in einer großen Stadt leben? Oder im Dorf?
Ich möchte lieber am Rand in einer mittelgroßen Stadt leben. Zum Beispiel am Strand, und dabei immer wissen, dass ich innerhalb von einer Stunde in einem guten Krankenhaus sein kann.
Was mögen Sie an einer großen Stadt?
Wenn man sich die Stadt als Benutzer ansieht, ist vor allem die Frage wichtig, ob sie eine gute Infrastruktur oder schlechte Infrastruktur hat. Also die Infrastruktur zum Beispiel in Hanoi ist viel problematischer als in Tokyo oder Seoul. Es gibt keine U-Bahn. Das ist ein großer Unterschied. Allerdings hat Hanoi den Vorteil, dass man überall mit dem Motorrad hinfahren kann. Das macht sogar Spaß. Oder nehmen wir die Versorgung: Welche Sachen kann ich essen? Also in Tokyo kann ich alles essen, was ich will. In Seoul kann ich fast alles essen, in Hanoi ist es schwieriger. Hier gibt es auch nicht so viele westliche Speisen.
Dann ist es schwer für Ausländer, in Hanoi zu leben?
Sicherlich, erst einmal ist es schwieriger als Tokyo. Aber ich ändere mein Leben auch gerne, wenn mich eine Stadt dazu zwingt, das finde ich nicht unbedingt schlecht. Ich kann davon etwas lernen.
Gibt es weitere Vorteile einer Großstadt?
Ich mag das Angebot einer großen Stadt, die Variationsmöglichkeit sowohl im kulturellen Leben als auch die Ausgehmöglichkeiten, Clubs und andere aufregende Sachen. Berühmte Bands und Musiker kommen in große, nicht in kleine Städte. Allerdings finden sich Menschen aus großen Städten schicker als die Menschen auf dem Land – obwohl sie, sobald sie in einer Großstadt sind, ganz schnell wieder ihr Dorf basteln. Also sie leben zwar in einer Stadt, aber sie leben dort wie in einem Dorf. Ich zum Beispiel fahre mit dem Fahrrad morgens zur Arbeit, kaufe immer im gleichen Supermarkt ein, oder esse ich in dem gleichen Restaurant – und das in Tokyo, der Stadt mit den meisten Restaurants in der Welt! Dafür erzähle ich, wenn ich in Deutschland bin, ich wäre in der Stadt mit den meisten Restaurants in der Welt – obwohl ich meistens nur in eines gehe. Ich benutze Tokyo als Distinktionselement und demonstriere, dass es etwas Besonderes ist, in dieser Stadt zu leben.
Was mögen Sie nicht an einer großen Stadt?
Es ist manchmal schwierig, Plätze zum Laufen zu finden. Ich jogge viel und die Luft ist leider schlecht. Und der Verkehr ist manchmal anstrengend. Ich mag die Arroganz der Großstadt nicht. In Berlin war es besonders stark. Ich habe einmal in Bonn gelebt und wenn ich damals nach Berlin gefahren bin, haben mir die Berliner immer erzählt, dass ich aus einer kleinen, unwichtigen Stadt komme. Und später habe ich mitbekommen, dass die Menschen, die mir gesagt haben, dass ich aus einer kleinen Stadt komme, eigentlich aus kleinen Dörfern kommen. Das hat mich immer ein bisschen geärgert. Aber jetzt kann mir das nicht passieren, weil ich jetzt in Tokyo wohne, der größten Stadt der Welt.
Wie haben Sie in den Städten gewohnt?
In Hanoi habe ich in einem guten Haus gewohnt, auch in Seoul und Tokyo. Wie viele Menschen in Japan wohnen in eigenen Häusern?
Keine Ahnung. Ich wohne mit meiner Familie in meinem eigenen Haus.
In Korea wohnen alle Menschen in eigenen Häusern?
Nein!
Wirklich? Alle Koreaner kaufen eine Wohnung! Koreaner mieten nicht, oder?
Meine Familie lebt jedenfalls in einer Mietwohnung. Was sind nach ihrer Erfahrung die größten Probleme der Großstadt?
Zuerst hängt es davon ab in welcher Stadt man wohnt. Mein größtes Problem in Hanoi waren sicherlich Kakerlaken. In Tokyo ist das schwierigste am Wohnen die Rücksichtnahme auf andere.
Warum Rücksichtnahme?
Ich meine damit, immer das Gefühl zu haben, dass man vielleicht zu laut sein könnte, auch wenn man gar nicht laut ist. Immer muss man darauf aufpassen. Es gehört ja zur japanischen Kultur, dass man die anderen nicht stören will.
In Ihrer Wohnung müssen Sie immer leise sein?
Nun ja, vielleicht muss ich gar nicht leise sein. Aber ich bin leise, weil ich glaube, dass es besser wäre, wenn ich leise bin. In Berlin wäre es mir aber egal. Ein sehr japanisches Problem…
Vielen Dank für das Gespräch.
Sehr gerne.
Das Interview entstand im Rahmen eines PASCH-Journalismus-Camps in Japan. Von 12. bis 16. August 2013 trafen sich 20 Schülerinnen und Schüler aus China, Korea, Japan, Taiwan, Hongkong und der Mongolei in Tokyo, um unter dem Motto „Journalismus entdecken“ die Arbeit mit unterschiedlichen Medien kennenzulernen. Nach einer Einführung in die Bereiche Print-, Online-, Radio- und Fernsehjournalismus konnten die Schülerinnen und Schüler jeweils ein Medium näher kennenlernen. Dabei wurde jede Workshop-Gruppe von einem deutschen Journalisten betreut, der die Schülerinnen und Schüler bei der Konzeption und Ausarbeitung ihrer Beiträge unterstützte.
Ein Beitrag von:
Das Gespräch führten Mika Furukawa (18, Japan) und Jong-Eon Park (17, Korea).